Sonntag, 21. November 2010

Warum wir ein bisschen mehr Wohlstand in Berlin brauchen

Ich mag den Wandel in Alt-Treptow, im Kiez rund um die Karl-Kunger-Straße. Manche schreien "Gentrifizierung!" und schmieren das Haus einer Baugruppe mit hasserfüllten Parolen zu. Andere, und dazu gehöre nicht nur ich, sehen die angenehmen Seiten: Weniger Menschen mit schweren Alkoholproblemen, die ihre gebrüllten Diskussionen um Mitternacht unter deinem Schlafzimmerfenster führen. Weniger Sofaruinen, Ekelmatrazen und Fernsehwracks auf den Baumscheiben. Kaum noch leere Lädchen, die vor sich hinrotten.
Wohl bekomm's. Die Freunde des Pfefferminzschnapses markieren ihr Revier im Kunger-Kiez. 
In den vergangenen drei Jahren kamen rund um die Karl-Kunger-Straße hinzu (ich zähle jetzt nur die Neuzugänge auf, die was mit Essen und Trinken zu tun haben, die Galerien, den T-Shirtdruck, die Klavier- und Fahrradwerkstatt, die Medienagentur, die Textildesignerinnen lasse ich mal außen vor):
  • das Café Provinz, mit Lesebühne, vegetarischem Mittagstisch, gutem Kaffee, Rollbergbier und WLan.
  • ein kleiner vietnamesischer Imbiss;
  • die Treptower Klause, die sich von einer verstaubten Kiezkneipe mit Pils und Bockwurst in ein herrliches kleines Restaurant mit wechselnder und anspruchsvoller Abendkarte verwandelt hat;
  • Karlas Gute Stube, das erst mit Fresken an der Wand als "Karla Trinkraum" gestartet war, aber inzwischen kein Essen mehr anbietet, dafür Spiele und Tatort;
  • die Vollkornbäckerei Hartwich (an der Elsenstraße) mit einem Sauerteigbrot, das meiner Meinung qualitativ und geschmacklich mit der Hofpfisterei mithalten kann. Aber eben in Berlin seine Backstube hat;
  • ein mittelmäßiger türkischer Bäcker in der Bouchéstraße, der sich leider nicht traut, im gar nicht mehr so urdeutschen Kungerkiez türkisches Weißbrot und Simit anzubieten;
  • ein LPG-Biosupermarkt mit Brot, Kaffeeausschank und Zeugs zum Vor-Ort-essen, wo ich aber noch nicht war (ebenfalls Bouchéstraße);
  • die Obstsammler von Mundraub (kein Obstladen, aber jung und hipp);
  • der Feinkostladen Il Sogno, eigentlich eher eine Espressobar, mit hervorragendem Kaffee und Gebäck, die auch allerhand italienischer Feinkost und Wein verkauft. Außerdem gibt es einen Mittagstisch.
Ganz klar: die Kaufkraft im Viertel ist gestiegen. Angelockt durch die günstigen Mieten und die schöne Lage zwischen Spree, Neukölln und Landwehrkanal sind neben Studis auch Leute mit ein bisschen Einkommen hergezogen. Menschen, die in ihrer Straße auch mal gut essen möchten und nicht nur im Supermarkt einkaufen  möchten oder müssen. Davon gibt es hier im Kiez auch noch drei Stück, auch die billigen Bäcker und die Spätverkäufe, den Schlachterimbiss und die schräge Eckkneipe mit billigem Bier. Für alle etwas. Die Kehrseite sind steigenden Mieten. Vorher waren sie niedrig, wer wollte schon in die öde Gegend. Das hat sich geändert, an den Bäumen hängen Zettel Wohnungssuchender, bei Neuvermietungen steigt der Preis. Manche befürchten die "Prenzlauerbergisierung" durch Baugruppen und Eigentumswohnungen. Ich bin mir nicht sicher, wo das Viertel am Ende stehen wird. Sicher bin ich mir nur, dass Mietwohnungen immer Spekulationsobjekte sind und  zum Geld verdienen gebaut wurden. Und so lange die Politik nicht ins Mieteigentum mit Gesetzen und Verordungen eingreift oder Sozialbauten fördert, werden Mieten mit der Nachfrage steigen.

Abwarten und Latte Macchiato trinken. Zeit für mich ein paar nette kulinarische Sachen  hier aus der Gegend - außer das unverändert grandiose Tapas 6 -  vorzustellen. Fortsetzung folgt.

Samstag, 20. November 2010

Die Karausche: Wie ich den Fisch des Jahres in Berlin-Lichtenberg fand

Dem Krankenhaus bin ich entflohen, fast ebenso lange habe ich nichts mehr geschrieben. Könnte eine echte Schreibblockade sein. Nicht, dass ich nichts mehr erleben würde oder mir die Lust am Fotografieren und Bloggen vergangen wäre. Ich nehme es mir ja jedesmal vor, wenn ich etwas Interessantes gekauft, gegessen, gesehen habe. Dann kommt der Moment, wo ich mich ins Blog einloggen will, die SD-Karte mit den Fotos steckt im Slot, ich seh' mir die Bilder an, bastele sie auf leckeressen-Format zurecht.  Und dann: nichts! Kein Drang, meine Erlebnisse in die Welt hinauszuposaunen. Aber niemand will hier existenzialistisches Gejammer lesen. Deshalb gibt es heute die Geschichte, wie ich nach Lichtenberg fuhr und mit einer Karausche, dem Fisch des Jahres 2010, zurück kam.

Der Fisch des Jahres 2010: die Karausche. Dieses prächtige Exemplar kann leider nichts mehr für 
den Bestand seiner Art tun.
Alles begann damit, dass ich mich bei einem Bekannten, einem bekennenden Lichtenberger, bitterlich über die schlechte Karpfenversorgung in dieser Stadt beklagte. Denn anscheinend bekommt man in Berlin leichter Austern aus Bouzigues  und Seewolf als einheimische Süßwasserfische. Prompt wurde mir der Intermarket Jubiljenyi in Lichtenberg für frisches Wassergetier aus der Umgebung empfohlen. Nun muss ich zugeben, dass es mich seltenst in den Stadtbezirk der Superlativen verschlägt, aber diese Aussicht machte mich mobil.
Keine Angst vor Sprachhürden. Alle russischen Produkte tragen auch deutsche Etiketten. 
Mit S-Bahn und Tram komme ich in der Gegend nördlich der Storkower Straße an. In dem grausigen Novemberwetter wirkt die Gegend geradezu verstörend unwirtlich. Ehemals sozialistische Wohntürme und Nachwendebrachialarchitektur säumen Ausfallstraßen, der Wind peitscht den Regen durch die Weiten zwischen den Häuserblocks. Dazwischen ein Einkaufszentrum in einem Komplex aus anthrazitfarbenem Granit. Ich bin am Ziel: die Leuchtreklame des Intermarket Jubiljenyi leuchtet bunt in dem Einerlei. Ich hatte einen Fischladen erwartet und bin in einem russischen Supermarkt gelandet. Schon das Ladenschild verzichtet auf lateinische Transkription, das kyrillische Alphabet dominiert die Etiketten der Fertigprodukte. In den Regalen: russische Wurst, russischer Wodka, russischer Käse, russisches Bier und sauer Eingewecktes jeglicher Art. Dazu Pelmeni, Piroggen und Blini aus der Tiefkühltruhe. Beim Frischgemüse fällt das vielfältige und günstige Angebot an Kohlsorten auf. Mein erster Kauf: Smetana. Russische saure Sahne mit 30 Prozent Fett.
Mein erster Einkauf im russischen Supermarkt:
Wodka, Saure Sahne, Baltika-Bier der Sorte Nr. 2
 und eine frische Karausche. 


Derber Charme an der Fischtheke

Dann stehe ich vor der Fischtheke und tatsächlich ziehen dort in einem Aquarium prächtige Spiegelkarpfen ihre Runden. In einem zweiten Becken warten andere Süßwasserfische, darunter ein Stör, auf das Ende in Kochtopf und Pfanne.

Doch es sind die Karauschen, deren Anblick mich spontan fesselt. Diese kleinen Karpfenfische habe ich bisher in keiner Fischtheke gesehen und hier sind gleich gut zwei Dutzend zu einem ordentlichen Berg aufgeschichtet. Preis: knapp drei Euro das Kilogramm! Offenbar nervt es die Verkäuferin, dass ich nun schon geschlagene 30 Sekunden ihre Ware anglotze. Mit Höflichkeiten hält sie sich erst gar nicht auf, als sie mit mit einem knappen "Ja?" und vorgeschobenen Kinn zum Kauf auffordert. Mein Lächeln bügelt sie mit einem unwilligen "Was wollen Sie?" ab. Alles klar, hier wird ver- und gekauft, ohne Brimbramborium und Gefühlsduselei. Freundlichkeit ist was für Weicheier.

Ich wähle eine Ein-Kilo-Karausche aus und frage unvorsichtiger Weise, ob sie das Tier - "bitte!" - ausnehmen könne. Ihr Blick lässt mich verstummen. Na gut, muss ich meinen Kauf wohl später selbst von seinen Innereien befreien. Doch anscheinend hat sie mir meinen anmaßenden Wunsch bereits verziehen. Denn als sie mir die Tüte über die Theke reicht, und ich mich bedanke, höre ich tatsächlich ein "Bittä schön. Auf Wiedersehen". Vielleicht will sie mich einfach nur loshaben.

Wodka satt

Noch ganz unter dem Eindruck meines Karauschenkaufes komme ich am Spirtousenregal vorbei und wähle aus geschätzten 20 Sorten Wodka einen halben Liter ukrainischen "Blagodatj" und eine Flasche Petersburger Baltika 2 in den Korb. Alles zusammen - Sahne, Frischfisch, Getränke - kostet nicht einmal elf Euro. Ein guter Preis.

Die - übrigens überaus frische - Karausche auszunehmen war nicht gerade ein Spaß, aber da muss man durch.Wenn die Leute ihren Fischstäbchengrundstoff regelmäßig selbst ausweiden müssten, würde erheblich weniger Fisch gegessen. Davon bin ich jetzt zutiefst überzeugt. Unser Fischchen bereiteten wir im Senfmantel zu. Obacht beim verlinkten Rezept! Statt fünf (!) Esslöffel Salz, was das Gericht natürlich ungenießbar machen würde, dürften die gleiche Menge Senf gemeint sein.  Dazu tranken wir ein Gläschen von dem vorzüglichen Wodka. Die leicht säuerliche Sahne passte übrigens hervorragend zu unseren selbstgemachten Blini. Sie ist sehr mild und schmelzend cremig auf der Zunge. Klasse. Meine nächste Karausche vom Intermarket werde ich übrigens filetieren, braten und dann sauer - wie Brathering - einlegen. Denn so gut der Fisch auch schmeckte, durch die vielen kleinen Gräten gestaltete sich die Mahlzeit etwas anstrengend. Vielleicht hole ich mir bei Jubiljenyi auch einen Karpfen. Ich hoffe nur, dass die Dame dann wenigstens das Schlachten übernimmt.


Intermarket Jubiljenyi
Möllendorfstraße 47-48
10367 Berlin-Lichtenberg
Öffnungszeiten Mo-Sa 9-20 Uhr


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